RWTH-Politikwissenschaftler im Interview: Assad ist weg – und jetzt?

Published On: 09/12/2024

Das Ende des Assad-Regimes in Syrien kam plötzlich und überraschend. Die RWTH-Politologen Ralph Rotte und Mahir Tokatlı ordnen im Interview die Gemengelage in Syrien ein.

Ein Interview der RWTH Aachen

Nach dem Machtwechsel in Syrien ist die Situation unklar. Viele Gruppen konkurrieren um die Macht, auch andere Nationen wie Russland, Israel oder die Türkei werden sich positionieren wollen. Doch klar ist: Die Flucht des Diktators Assad und der Machtwechsel in Syrien sind ein gutes Zeichen und ein Signal an Diktaturen weltweit. Die unübersichtliche Situation und die vielen nationalen und internationalen Interessen analysieren Professor Ralph Rotte und Dr. Mahir Tokatlı. Rotte ist Professor für Internationale Beziehungen am Institut für Politische Wissenschaften der RWTH Aachen, Tokatlı forscht unter anderem zur Türkei, zu Regierungssystemen, Demokratien und Autokratien.

Wieso konnte der Sturz Assads so plötzlich geschehen?

Rotte: Offenbar spielen da verschiedene Faktoren zusammen, die einen Hinweis darauf geben, wie stark die verschiedenen gegenwärtigen Konflikte zusammenhängen: Erstens hat das Assad-Regime wesentliche Unterstützung verloren, weil Russland seine Ressourcen vordringlich in der Ukraine braucht und vor allem seine massiven Luftangriffe als Hilfestellung für das Regime nicht mehr durchführen konnte wie in den Vorjahren.

Zugleich haben die Israelis offensichtlich die Hisbollah massiv geschwächt und auch den Iran in gewisser Weise gebremst, sodass auch dieser zweite Pfeiler der Unterstützung wegbrach. Drittens haben die Rebellen anscheinend genau auf einen solchen Augenblick gewartet und sich mit türkischer Hilfe systematisch auf eine neue Offensive vorbereitet. Und viertens ist angesichts dieser Aspekte die Moral der syrischen Regierungsarmee in kürzester Zeit völlig kollabiert, sodass es kaum mehr Widerstand gab und die Rebellen insgesamt ein leichtes Spiel hatten.

Tokatlı: Die Frage ist eigentlich: Warum konnte Assad sich überhaupt noch so lange halten? Denn Syrien ist bereits seit einer langen Zeit de facto in mehrere Gebiete unterteilt. Assad hatte keine Kontrolle über das gesamte Land, seine Herrschaft war immens instabil und stark abhängig von Russland und dem Iran.

Dennoch lassen sich bestimmte Aspekte nennen, warum der Sturz dann doch so plötzlich geschah. Assads außenpolitische „Schutzmächte“ Russland und Iran sind mit anderen Konflikten beschäftigt und konnten ihre Kräfte nicht auf den Schutz Syriens fokussieren. Sowohl der russische Krieg in der Ukraine als auch Irans Scharmützel mit Israel führten zu einer Abwesenheit, was die Assad-Gegner ermutigte, die Gunst der Stunde zu nutzen.

Russland beispielsweise musste in Syrien seine Truppen teilweise abziehen, da sie gebraucht wurden. Auch die iranisch-unterstützte Terrororganisation im Libanon, die Hisbollah, war nicht mehr in der Lage oder auch willens, dem syrischen Herrscher zur Seite zu stehen.

Wer sind die Rebellen und welche weiteren Player gibt es in Syrien? Ist die Opposition geeint?

Tokatlı: Nein, die Opposition ist politisch nicht geeint. Vielmehr ist sie unübersichtlich. Es gibt Gruppen, die sind säkular, westlich orientiert, dazu gehören auch die ethnischen und religiösen Minderheiten. Es gibt aber auch Gruppen, die eine radikal-islamistische Ideologie verfolgen. Insbesondere diese Gruppen machen die Lage so kompliziert, denn wenn sie sich durchsetzen, dann kann die Opposition nur schwerlich so heterogen bleiben. Das Tragische ist: Diese Gruppen werden massiv von der Türkei, einer westlichen Bündnispartnerin, unterstützt.

Rotte: Die Rebellen sind im Wesentlichen ein Bündnis verschiedener sunnitischer, islamistischer Gruppierungen, deren Verbindungen zu al-Qaida in der Vergangenheit recht ausgeprägt waren, aber jetzt offiziell abgebrochen und insgesamt fraglich sind. Außerdem gibt es noch die Freie Syrische Armee, die im Wesentlichen aus Abtrünnigen der ehemaligen syrischen Armee besteht und von den USA unterstützt wird; dazu die Nationale Syrische Armee, hinter der die Türkei steht. Und auch die Kurden gehören zur Anti-Assad-Seite, sind aber mit den Islamisten und der Nationalen Syrischen Armee verfeindet. Wir haben es also mit einer sehr heterogenen Opposition zu tun, die auch untereinander nicht nur befreundet ist.

Rojava als Beispiel für eine pluralistische Gesellschaft?

Welche Optionen hat Syrien nun?

Tokatlı: Es ist offen. Vieles kann geschehen, es wird darauf ankommen, welche Gruppen sich durchsetzen. Die Situation kann sich zum Negativen entwickeln und einer weiteren Radikalisierung Vorschub leisten sowie zu einer weiteren Destabilisierung der Region führen. Möglich wäre aber auch, dort bereits bestehende und auf Gleichberechtigung beruhende Projekte, wie das autonome Gebiet Rojava, als Beispiel zu nehmen und ein pluralistisches Gebilde zu etablieren.

Rotte: Ganz praktisch muss sich zunächst eine neue Regierung konsolidieren, was angesichts der verschiedenen Gruppierungen und Strömungen nicht einfach sein dürfte. Dann ist zu klären, wie man sich gegenüber den Nachbarn und bisherigen Interventionsmächten positioniert. Will man sich mit den Russen arrangieren, die bestrebt sein werden, ihren Marine- und Luftwaffenstützpunkt in Syrien zu halten? Will man sich gegen die Kurden und ihre faktische Autonomie im Nordosten Syriens wenden? Will man eine Konfrontation mit dem Iran und der Hisbollah weiterführen oder sich ebenfalls arrangieren?

Und wie stellt man sich gegenüber Israel auf, das ebenfalls Gegner Assads war, das aber für islamistische Gruppen traditionell ein Hauptfeind ist? In all diesen Bereichen gibt es unterschiedliche Optionen, die noch zu intensiven internen Konflikten führen dürften, ganz abgesehen davon, dass die neue Regierung, wenn sie nicht schnell wieder zerfällt, mit dem Wiederaufbau und der Reintegration zurückkehrender Flüchtlinge massiv belastet sein wird.

Welche Rolle spielt die Türkei? Was geschieht mit Minderheiten wie den Alawiten und den Kurden im Autonomiegebiet?

Rotte: Die Türkei hat ihre Karten bislang optimal ausgespielt und sich als zentrale Führungsmacht im Nahen Osten positioniert. Mit dem Einfluss auf die Rebellenallianz und die Nationalarmee erhofft sich Präsident Erdogan wohl eine Aufwertung der Türkei als regionale Großmacht, etwa gegenüber dem Iran und Israel. Außerdem unterstreicht er seine Bedeutung gegenüber Russland und den USA.

Für die Kurden in Syrien ist zu befürchten, dass diese neue Stärkung dazu genutzt werden wird, militärisch gegen sie vorzugehen, was aus humanitärer Perspektive hochproblematisch sein wird und zu neuen Spannungen zwischen der Türkei und der neuen syrischen Regierung auf der einen und den USA und den Europäern auf der anderen Seite führen dürfte. Im schlimmsten Fall versuchen die Islamisten gemeinsam mit der türkischen Regierung, die Autonomiegebiete im Sinne der „Einheit Syriens“ in ihre Gewalt zu bekommen, wogegen sich die kurdischen Milizen nach Kräften wehren werden. Ich fürchte, die kurdischen und alewitischen Minderheiten müssen sich trotz der offiziell gemäßigten Töne der Rebellenallianz wohl auf Repression und Diskriminierung einstellen.

Tokatlı: Es wird häufig vergessen, dass die Türkei nicht nur ein Nachbar- und Aufnahmeland ist, sondern auch eine Kriegspartei in dem Konflikt, die dazu beigetragen hat, syrische Geflüchtete zu produzieren. Diejenigen syrischen Gruppen, die seitens der Türkei Unterstützung genießen, sind in großen Teilen radikal-islamistische Gruppen. Für ein hoffnungsvolles, plurales und friedliches Syrien wäre es wünschenswert, wenn sich die Türkei mit ihren Interessen nicht durchsetzen würde.

Zu diesem Interesse gehört auch, die „Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien – Rojava“ möglichst nachhaltig zu schwächen. Aber gerade diese autonomen Kurdengebiete haben gezeigt, wie ein harmonisches und plurales Zusammenleben unterschiedlicher Religionen, Ethnien und Kulturen funktionieren könnte. Die vielfachen Angriffe auf dieses Gebiet seitens der Türkei und ihrer Kollaboration mit dschihadistischen Akteuren zeugt von der gefährlichen Rolle der Türkei für diese Region. Nicht nur aus einer humanitären Perspektive für die Menschen vor Ort, sondern auch aus einer westlichen Perspektive.

Die Minderheiten in Syrien, die Kurdinnen und Kurden, Alawitinnen und Alawiten und auch die Drusinnen und Drusen, schauen teilweise besorgt auf die Ereignisse. Das ist berechtigt, schließlich sind auch radikal-islamistische Gruppen Teil der Opposition, die eine politische Ideologie verfolgen, die nicht auf Pluralismus basiert. Hier sollte der Westen ein besonderes Interesse haben, die Region politisch zu begleiten und ihre Alliierten dort zu unterstützen.

Hauptakteure sind gleichzeitig Gegner und Partner

Was bedeutet die neue Lage für den gesamten Nahen Osten?

Tokatlı: Eine langjährige Diktatorendynastie ist gestürzt. Das ist ein gutes Zeichen für den Nahen Osten. Das ist ein schlechtes Zeichen für andere Diktaturen in dieser Region, was wiederum ein gutes Zeichen für die Menschen im Nahen Osten ist. Wie sich aber nach diesem ersten guten Schritt die Dynamiken in der Region entwickeln, ist schwierig abzuschätzen, da noch eine große Unübersichtlichkeit herrscht. Es gibt viele unterschiedliche innenpolitische Interessen, die zudem von außenpolitisch diversen Interessen der „Big Player“ begleitet werden.

Rotte: Der Sturz Assads ist zweifellos ein Erfolg für die Türkei und eine Niederlage für den Iran. Für Israel ist er ebenfalls ein Teilerfolg, denn er zeigt erstens, wie stark geschwächt die Hisbollah durch die Schläge der Israel Defense Forces ist, und zweitens, dass zukünftig die Landbrücke und damit logistische Versorgung der Hisbollah vom Iran aus über den Irak und Syrien weitgehend unterbrochen werden könnte. In diesem Sinne könnte der Druck auf die Gegner Israels weiter steigen und der Waffenstillstand mit der Hisbollah gefestigt und ein solcher mit der Hamas wahrscheinlicher werden. Das wäre dann praktisch gleichbedeutend mit so etwas wie einem strategischen Sieg Israels.

Allerdings sollte man nicht vergessen, dass die syrischen Rebellen keineswegs Freunde Israels sind und die IDF ja offensichtlich Waffenlager der ehemaligen Regierungsarmee bombardieren und eine Sicherheitszone in Syrien aufbauen, nur zur Sicherheit sozusagen. Die Situation im Nahen Osten kann zudem nur dann mittel- bis langfristig entspannter werden, wenn die rechtsradikalen Kräfte in Israel den strategischen Erfolg jetzt nicht zur territorialen Expansion und eventuellen Vertreibungen aus den palästinensischen Gebieten nutzen.

Und dann ist da noch die Schutzmacht der Rebellen, die Türkei, mit der das Verhältnis nicht das Beste ist. Aber dieses Verhältnis könnte sich verbessern, wenn es tatsächlich zu einem Waffenstillstand in Gaza kommt. Im Übrigen ist das Schwierige an der Konstellation, dass die Hauptakteure gleichzeitig Gegner und Partner sind: Die Türkei und Israel als Gegner Assads und des Iran; die Türkei und der Iran als Gegner der Kurden und teilweise Israels; Israel und der Iran als Gegner des sunnitischen Islamismus und so weiter.

Und was bedeutet es für den Rest der Welt? Werden beispielsweise die vielen Flüchtlinge zurückkehren (müssen)?

Rotte: Ich glaube, die Hoffnung auf eine Rückkehr wird nicht so schnell und umfassend realisiert werden können, wie sich das viele vorstellen. Das neue Regime muss sich erst einmal stabilisieren und die materiellen Grundlagen für die Rückkehr hergestellt werden, zum Beispiel was Wohnraum betrifft. Mit einer Rückkehr der Flüchtlinge nach Syrien würde aber auch das migrationspolitische Erpressungspotenzial Erdogans gegenüber der EU kleiner. Auf jeden Fall wird Syrien internationale Hilfe benötigen.

Zugleich ist der Fall Assads eine strategische Niederlage Russlands, insbesondere dann, wenn es tatsächlich gelänge, die Russen zur Aufgabe ihrer Stützpunkte zu zwingen. Denn damit würde Russland seine einzige Marinebasis im Mittelmeer überhaupt verlieren, das wäre für Putins Ambitionen ein herber Schlag. Damit wird zwar einerseits die Schwäche des „unbesiegbaren“ Russlands offenbar, andererseits wird der Druck auf Putin noch größer, in der Ukraine zu einem Erfolg zu kommen. Ich würde daher sagen, der Umsturz in Syrien sollte unsere Hoffnung, dass Russland zu schlagen ist, stärken, er wird aber auch zu neuen russischen militärischen Anstrengungen in der Ukraine führen. Ein Grund mehr, jetzt endlich mit der „Zeitenwende“ Ernst zu machen und die Ukraine konsequent weiter zu unterstützen.

Tokatlı: Ich kann aufgrund der Debatten in den letzten Jahren diese Frage nachvollziehen, finde sie zum jetzigen Zeitpunkt aber unangemessen. Die Situation in Syrien ist unübersichtlich, niemand weiß, wie es weitergeht, wie sich der Staat entwickeln wird. Der schreckliche Diktator könnte unter Umständen von einer nächsten, vielleicht sogar noch schrecklicheren Diktatur ersetzt werden. Deswegen ist die Frage, ob Geflüchtete zurückkehren, schwierig.

Ob sie zurückkehren müssen, ist wiederum eine gute Frage. Angesichts der gegenwärtigen „Abschiebekonjunktur“ innerhalb deutscher Parteien und des bevorstehenden Wahlkampfs kann ich mir Restriktionen in Asylangelegenheiten und vermehrte Abschiebungen nach Syrien gut vorstellen. Das Bundesamt für Migration hat heute bereits Asylanträge von Syrerinnen und Syrern ausgesetzt. Wichtig wäre, den progressiven Kräften wie den Kurdinnen und Kurden tatkräftig und nachhaltig zur Seite zu stehen und die NATO-Partnerin Türkei daran zu hindern, radikal-islamistische Gruppen zu unterstützen.