Was KI für unseren Arbeitsplatz bedeutet
„Große Fragen“: RWTH-Professorin Verena Nitsch spricht im Interview über die neue Arbeitswelt, Augmented Reality, Smart Working und Gleichberechtigung.
In der Interviewreihe „Große Fragen“ beantworten Expert*innen der RWTH Fragen, die die Welt bewegen. Professorin Verena Nitsch ist seit 2018 Lehrstuhlinhaberin und Direktorin des Instituts für Arbeitswissenschaft (IAW) der RWTH Aachen. Sie ist unter anderem Mitglied des Vorstands und Vizepräsidentin der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft und Sprecherin des Arbeitswissenschaftlichen Kompetenzzentrums für Erwerbsarbeit in der Industrie 4.0 (AKzentE4.0).
Sie engagiert sich als Vorsitzende der fakultätsübergreifenden Ethikkommission der RWTH, ist Vorsitzende der Kommission für Chancengerechtigkeit & Diversität an der Fakultät für Maschinenwesen und Schirmherrin des First Generation Aachen e.V., einem studentischen Verein, der Studierende aus nicht-akademischen Haushalten unterstützt.
Wie sieht der Arbeitsalltag einer Arbeitswissenschaftlerin aus?
Der Arbeitsalltag einer Professorin oder von jemandem, der in der Arbeitswissenschaft arbeitet?
Der Alltag der Professorin Nitsch…
Als Institutsleiterin an der RWTH Aachen bin ich verantwortlich für etwa 90 Beschäftigte. Mein Arbeitsalltag umfasst Lehrtätigkeiten wie Vorlesungen und Prüfungen, die Betreuung von Studierenden sowie Forschungsprojekte und Personalmanagement. In verschiedenen Kommissionen engagiere ich mich für Chancengerechtigkeit und Wissenschaftsethik.
Zudem berate ich die Politik in Fragen der Arbeits- und Technikgestaltung und betreibe Öffentlichkeitsarbeit. Trotz des herausfordernden Weges zur Professur schätze ich die akademischen Freiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten sehr und empfehle diesen Beruf gerne weiter.
Ist der Weg zur Professur für Frauen steiniger als für Männer?
Es stellen sich andere Herausforderungen, diese werden mittlerweile erkannt und aufgearbeitet. Die Bedingungen werden besser und fairer für Frauen. Wir hoffen natürlich, dass sich das noch weiter ins Positive entwickelt, aber Frauen haben heutzutage bessere Chancen als je zuvor, eine Professur zu erlangen.
Ich kann nur alle dazu ermutigen, sich nicht selbst von vornherein Grenzen zu setzen und zu sagen, ich habe keine Chance in diesem Feld, weil es dort so viele Männer gibt. Jetzt ist wirklich die Chance gegeben.
Der Fokus Ihrer Forschung liegt auf menschengerechter Gestaltung und Optimierung von sozio-technischen Arbeitssystemen. Was bedeutet das?
Ein sozio-technisches Arbeitssystem umfasst verschiedene Komponenten, die bei der Arbeit zusammenwirken. Es besteht zum einen aus der zu erledigenden Aufgabe und den technischen Arbeitsmitteln wie Computer, Smartphone oder Fahrzeuge. Der technische Teil bezieht sich also auf diese Arbeitswerkzeuge. Die soziale Komponente umfasst das Zusammenspiel mit Kolleginnen und Kollegen, Vorgesetzten und Mitarbeitenden.
Das Zusammenwirken der sozialen und technischen Komponenten bestimmt maßgeblich die Arbeitsqualität, Produktivität, Gesundheit, Sicherheit, Arbeitszufriedenheit und Entwicklungsmöglichkeiten der Beschäftigten. Die menschengerechte Gestaltung eines sozio-technischen Arbeitssystems zielt darauf ab, die Schnittstelle zwischen Mensch, Technik und Organisation optimal zu gestalten. Dies soll gewährleisten, dass Menschen produktiv, gesund und sicher arbeiten können, dabei zufrieden sind und sich weiterentwickeln können.
Nutzen diese Technologien allen gleichermaßen oder gibt es Geschlechterunterschiede?
Diese Frage bezieht sich auf alle Technologien, Arbeitsformen und Menschen – verallgemeinern lässt sich das nicht. Wenn Technologien nur für bestimme Gruppen entwickelt werden, kann dies andere diskriminieren. Zum Beispiel in der Medizin, in der eine KI-basierte Software entwickelt wurde, um Tumore automatisch zu klassifizieren. Aber diese Software hat besser funktioniert für die Klassifikation männlicher Tumore als für die weiblicher.
Gibt es andere Beispiele?
Auch bei Gesichtserkennungssystemen können Schwierigkeiten auftreten, wenn diese hauptsächlich mit Daten von Menschen mit heller Hautfarbe trainiert wurden. Das Problem liegt bereits in der Entwicklungsphase, wenn die Diversität der Trainingsdaten nicht berücksichtigt wird. KI-Systeme lernen anhand der eingespeisten Daten zu unterscheiden, welches Gesicht zu welcher Person gehört. Werden beispielsweise nur Bilder von hellhäutigen Männern verwendet, kann das System diese gut erkennen, hat aber Schwierigkeiten bei der Erkennung von Menschen mit anderer Hautfarbe oder bei Frauen.
Wie lässt sich das lösen?
Ein diverses Entwicklungsteam kann solche Probleme frühzeitig erkennen. Wenn etwa eine dunkelhäutige Entwicklerin feststellt, dass keine der Trainingsdaten ihr ähnelt, kann sie diesen Mangel direkt ansprechen oder beheben. Forschende haben diese systematischen Verzerrungen (Bias) in den vergangenen Jahren untersucht und dokumentiert. Dies hat zu einem gesteigerten Bewusstsein bei Unternehmen für diese Problematik geführt.
„Häufig werden nur Teilbereiche von Tätigkeiten automatisiert”
Wie wird sich die zunehmende KI-Integration auf die Geschlechtergerechtigkeit am Arbeitsplatz auswirken?
Das ist noch nicht vollständig absehbar, da besonders generative KI-Systeme und Sprachmodelle neuartige Technologien darstellen. Anders als frühere Automatisierungen, die hauptsächlich manuelle Tätigkeiten betrafen, können diese Systeme kommunikative Aufgaben übernehmen. Etwa ein Drittel aller Beschäftigten weltweit sind in der Wissensarbeit tätig. Studien zeigen, dass bereits mit GPT-4 vom Stand 2023 zahlreiche Tätigkeiten von Beschäftigten hätten automatisiert werden können.
Wer ist davon betroffen?
Überwiegend Frauen, da sie häufiger in kommunikativen Berufen arbeiten. Die aktuelle Automatisierungswelle betrifft außerdem diesmal verstärkt gut bezahlte Positionen und Akademikerinnen und Akademiker, was auch Auswirkungen auf Steuereinnahmen hat. Für Unternehmen bietet die Einsparung hochbezahlter Positionen größere wirtschaftliche Vorteile.
Allerdings überwiegt das Potenzial zur Augmentierung – also zur Unterstützung und Verbesserung bestehender Arbeit – gegenüber der vollständigen Automatisierung. Häufig werden nur Teilbereiche von Tätigkeiten automatisiert, während andere Aufgaben weiterhin menschliche Fähigkeiten erfordern.
Warum werden nicht alle Menschen entlassen, wenn KI ihre Aufgaben bereits übernehmen kann?
Tatsächlich werden viele entlassen, aber nicht alle. Das liegt daran, dass man oft nur einen Teil der Arbeit an KI überträgt und den Menschen einige Aufgaben belässt. Das größere Potenzial liegt darin, KI als Unterstützungswerkzeug für Fachkräfte einzusetzen. Dabei ergänzen sich menschliche Stärken wie Berufserfahrung und kreative Ideenfindung mit den Fähigkeiten der KI, was zu besseren Arbeitsergebnissen führen kann. Umfragen zeigen, dass Unternehmen KI-Systeme eher dazu einsetzen wollen, um bestehende Jobs zu optimieren, als sie zu ersetzen.
Wie wird sich KI noch auf dem Arbeitsmarkt weiterentwickeln?
Die genaue Entwicklung der künstlichen Intelligenz in den nächsten Jahren lässt sich nicht vorhersagen, da die technologischen Fortschritte sehr schnell voranschreiten. Als nächster Entwicklungsschritt zeichnen sich KI-Agenten ab, an denen Unternehmen wie OpenAI bereits arbeiten. Diese sollen eigenständig Aufgaben übernehmen können.
In naher Zukunft ist jedoch nicht damit zu rechnen, dass KI uns alle arbeitslos macht. Stattdessen entstehen durch neue Technologien auch kontinuierlich neue Tätigkeitsfelder. Die vielen Beschäftigungsoptionen, die es heutzutage zum Beispiel in den sozialen Medien gibt, wären vor 25 Jahren noch undenkbar gewesen. Die bestehenden Berufe werden sich allerdings stark wandeln, vermutlich noch schneller als bisher.
Neue Jobs entstehen vor allem in männlich geprägten Bereichen
Früher war angedacht einen Beruf bis zur Rente auszuüben…
Das wird wahrscheinlich immer seltener möglich sein. Tätigkeiten im kreativen Bereich wie Illustrationen, Bilder und Videos werden zunehmend automatisiert, sogar in der Ausbildung lässt sich heutzutage viel mehr automatisieren als noch vor ein paar Jahren. Dies bietet immer mehr Möglichkeiten, was die Frage aufwirft, welche neuen Beschäftigungsfelder dadurch entstehen.
Der aktuelle Bedarf konzentriert sich auf KI- und technische Berufe, die traditionell von Männern dominiert werden. Dadurch gehen viele Tätigkeiten, die bislang überwiegend von Frauen ausgeübt wurden, an die Automatisierung verloren, während neue Jobs vor allem in männlich geprägten Bereichen entstehen. Dies könnte bestehende Ungleichheiten weiter verstärken. Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, mehr Frauen für technische Berufe zu gewinnen. Universitäten spielen dabei eine zentrale Rolle, indem sie Frauen nicht nur ermutigen, sondern auch dazu befähigen, gut bezahlte Tech-Jobs auszuführen.
Welche Perspektiven ergeben sich dadurch für die Beschäftigten?
Menschen mit hoher Lernbereitschaft und räumlicher Flexibilität haben zukünftig gute Beschäftigungschancen. Allerdings können oder wollen nicht alle ständig lernen und sich anpassen, etwa aufgrund familiärer Verpflichtungen oder mangelnder Mobilität.
Was passiert mit denen, die diese Fähigkeiten nicht mitbringen?
Diese gesellschaftliche Herausforderung erfordert politische Lösungen. Technologien können dabei unterstützend wirken, indem sie beispielsweise Menschen mit Behinderungen neue Arbeitsmöglichkeiten eröffnen oder durch Videokonferenzsysteme ortsunabhängiges Arbeiten ermöglichen.
Die Akzeptanz solcher Technologien hat sich über die Zeit entwickelt – von der anfänglichen Skepsis gegenüber Videotelefonie bis zur heutigen Selbstverständlichkeit von FaceTime-Gesprächen. Die ersten Videotelefone waren überhaupt nicht akzeptiert, weil keiner mit Lockenwicklern auf dem Kopf gesehen werden wollte. Heutzutage telefonieren wir per FaceTime bei jeder Gelegenheit.
Das stimmt, in jeder Lebenslage…
Es ist inzwischen akzeptiert. Technologien sind nicht nur Hindernisse oder Bedrohungen für Arbeitsplätze, sondern bieten viele Chancen. Damit diese Möglichkeiten genutzt werden, sollten Entwicklerinnen und Entwickler solche Aspekte berücksichtigen. Die Arbeitswissenschaft spielt dabei eine zentrale Rolle, indem sie eng mit Technikentwicklerinnen und -entwicklern zusammenarbeitet, um Wege aufzuzeigen, wie Menschen bei ihrer Arbeit unterstützt werden können – nicht nur in Bezug auf Produktivität, sondern auch auf Zufriedenheit sowie physische und psychische Gesundheit.
Macht ständige Erreichbarkeit krank?
Absolut, denn die damit verbundene Entgrenzung zwischen Arbeits- und Privatleben birgt tatsächlich gesundheitliche Risiken. Diese Entgrenzung bedeutet, dass wir sowohl im privaten Umfeld für berufliche Angelegenheiten erreichbar sind und an Arbeitsprobleme denken, als auch am Arbeitsplatz private Angelegenheiten regeln und uns mit privaten Problemen beschäftigen.
Beim Thema Work-Life-Balance geht es nicht primär darum, den Arbeitsanteil zu minimieren. Vielmehr bedeutet Balance, dass beide Lebensbereiche ihre positiven Aspekte entfalten können. So bietet die Arbeit beispielsweise Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung und verschafft Erfolgserlebnisse. Eine gesunde Balance zeichnet sich dadurch aus, dass eine klare Grenze zwischen beiden Bereichen existiert und Probleme des einen Bereichs nicht in den anderen hineingetragen werden. Diese Thematik ist auch Gegenstand arbeitswissenschaftlicher Forschung.
„Laptops wird es zumindest in ferner Zukunft nicht mehr geben”
Woran forschen Sie zurzeit?
Ein Beispiel ist das Kompetenzzentrum AKzentE 4.0, bei dem das IAW gemeinsam mit regionalen Unternehmen erforscht, wie KI-Systeme in den Unternehmen zu einer menschengerechten Arbeitsgestaltung beitragen können. Ziel ist es, die Beschäftigten produktiver, sicherer und gesünder zu machen. Dabei werden sie aktiv in die Forschung eingebunden, um positive Effekte zu gewährleisten und negative frühzeitig zu erkennen.
Wird es zukünftig noch Büros geben oder sitzt jeder alleine am Laptop?
Ich glaube, Laptops wird es zumindest in ferner Zukunft nicht mehr geben.
Ach so?
In den letzten Jahrzehnten zeichneten sich verschiedene technologische Entwicklungstrends ab, wobei Augmented Reality eine zentrale Rolle spielt. Diese Technologie zielt darauf ab, klassische Bildschirme durch Smart Glasses oder sogar Kontaktlinsen zu ersetzen, wodurch eine Verschmelzung von realer und virtueller Welt ermöglicht wird. Die Interaktion mit digitalen Inhalten soll dabei durch Gesten erfolgen, ohne an einen physischen Arbeitsplatz gebunden zu sein. Obwohl diese Entwicklung in den nächsten zehn Jahren noch nicht vollständig ausgereift sein wird, forschen viele Unternehmen intensiv daran.
Diese technologische Evolution bringt sowohl Chancen als auch Risiken mit sich. Einerseits könnte mehr Bewegungsfreiheit die gesundheitlichen Probleme durch langes Sitzen reduzieren. Andererseits entstehen neue gesundheitliche Herausforderungen durch die unmittelbare Nähe der Displays zum Auge. Die Arbeitswissenschaft untersucht diese Mensch-Maschine-Interaktion und ihre Auswirkungen intensiv.
Wie sieht es mit Büros aus?
Ich glaube, trotz der zunehmenden Virtualisierung werden physische Arbeitsräume weiterhin bedeutsam bleiben. Büros bieten wichtige Vorteile für die Zusammenarbeit. In einer Zeit zunehmender physischer Isolation, wie sie etwa durch Homeoffice verstärkt wird, sind gemeinsame Arbeitsräume besonders wertvoll. Nicht alle Menschen verfügen zudem über optimale häusliche Arbeitsbedingungen.
Viele verfügen weder über die richtige Ausstattung noch das nötige Fachwissen, um bei sich zu Hause ergonomische Arbeitsbedingungen zu schaffen. Für manche Personen ist der Arbeitsplatz auch ein sicherer Zufluchtsort. So wurde zum Beispiel während der Pandemie in den Lockdowns vielerorts ein Anstieg in häuslicher Gewalt verzeichnet. Die Arbeitswissenschaft befasst sich damit, wie die positiven Aspekte von realen und virtuellen Arbeitsräumen erhalten und gleichzeitig neue Möglichkeiten für eine ausgewogene Work-Life-Balance geschaffen werden können.
In welchen Branchen werden wir zukünftig die größten Veränderungen sehen?
In allen.
Der Text stammt aus der RWTH-Interviewreihe „Große Fragen”. Das Interview führte Nicola König.
Bild: Heike Lachmann / RWTH Aachen