Willkommenskultur Ausländeramt

Willkommenskultur beginnt im Ausländeramt

Published On: 21/11/2023

Von Brasilien nach Aachen, von der Architektur zur Sozialarbeit. Raquel erzählt ihre ganz persönliche Geschichte von Liebe, Migration und Diskriminierung. Eine Willkommenskultur müsse im Ausländeramt beginnen, schreibt sie: „Das Ausländeramt ist der erste Anlaufpunkt in Deutschland, wenn wir hier ankommen. Es ist die erste Tür, die wir in der Stadt durchschreiten. Und ich frage mich: Warum muss dieser Ort uns Angst machen?“

Von Raquel Barros Fialho

Meine Oma hat erzählt, dass ich mit acht einmal zu ihr sagte: „Oma, ich werde später weit weg leben.“ Damals konnte sie damit nichts anfangen und dachte wohl, ich sei ein Mädchen voller Träume.

Inmitten der Diktatur Brasiliens aufzuwachsen, in einer politisch engagierten Familie, war aufregend. Die Familie meiner Mutter war voller Revolutionäre, die gegen unsere Militärdiktatur kämpften. Mein Patenonkel Marcos saß im Gefängnis und als er freikam, 1973, wurde ich geboren. Für meine Mutter war klar, mich als Tochter ihrem Bruder anzuvertrauen. Marcos beeinflusste meine politischen Ansichten – und meine Vorliebe für das Fußballteam von Atlético Mineiro. Ja, in Brasilien erben wir das Fußballteam der Familie und von klein auf werden die Kinder ins Stadion mitgenommen. Es gehört einfach dazu. Was soll ich sagen? Meine Kinder sind auch für Galo, so nennen wir mein Team. Wir alle besitzen das Trikot.

Als ich begann, Architektur zu studieren und meine Leidenschaft für das Restaurieren älterer Gebäude entdeckte, war mir klar, dass ich unbedingt Europa kennenlernen wollte. Ich plante, nach Italien zu gehen und mich dort zu spezialisieren. Ich fing sogar an, Italienisch zu lernen. Das Leben öffnete mir jedoch eine andere Tür und durch ein Praktikumsangebot kam ich nach Deutschland. Dank meines Vaters wusste ich viel über das Land. Er war beruflich weltweit unterwegs und kaufte Maschinen für das staatliche Acominas-Stahlwerk.

Raquel mit Mutter Lydia und Oma Edir.

 

„Mit 23 Jahren packte ich meinen Koffer“

Meine erste Begegnung mit einem Deutschen hatte in meiner Heimatstadt Belo Horizonte stattgefunden als ich etwa 16 Jahre alt war. Bestimmt hast du schon von meiner Heimatstadt gehört? Dort hat die deutsche Mannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 mit 7:1 gegen Brasilien gewonnen. Aber lassen wir das Thema, denn das war für mich wirklich ein Albtraum … Ein Student aus Berlin war in mein Bundesland Minas Gerais gekommen, um nach Gold zu suchen. Anfangs musste ich lachen, denn es ist nicht einfach, hier Gold zu finden. Ich fragte mich, woher er wohl diese Vorstellung hatte, dass überall bei uns Gold herumliegt und man dadurch reich werden könnte. Wenn es so einfach wäre, würden wir das doch alle tun, oder?!

Da der Berliner sehr verloren wirkte, brachte meine Schwester ihn zu uns, damit er übernachten konnte, bevor er am nächsten Tag seine Reise ins Landesinnere fortsetzen würde. Bevor er unser Haus verließ, schenkte er uns Gummibärchen. Oh, das war etwas Besonderes. Meine Geschwister und ich, wir waren zu viert, hatten die Tüte schnell geleert.

Mit 23 Jahren packte ich meinen Koffer und absolvierte mein Praktikumssemester in Raesfeld und in Essen. Es waren sechs Monate voller Erlebnisse, und ich war einfach von allem begeistert. Mit meinem schlechten Englisch und meinem A1-Niveau in Deutsch schlug ich mich durch. Zum Glück hatte ich in der Architektur vor allem mit Zeichnungen zu tun und musste nicht viel sprechen.

Trotzdem lernte ich tolle Menschen kennen und aß unglaublich viel. Ich habe schon immer Kartoffeln und Salami geliebt – es war wie im Paradies für mich. Zum ersten Mal in meinem Leben wog ich mehr als 50 Kilo. In Raesfeld lebte ich in einem Schloss und wurde Rapunzel genannt, weil ich im Turm wohnte. Ich war eine Sensation in dem kleinen Dorf, sogar die Lokalzeitung berichtete über mich.

Rapunzel von Raesfeld

Rapunzel von Raesfeld: Hier wohnte Raquel während ihres Praktikums.

 

Für die Liebe – und für Deutschland

Am Anfang, als ich allein war, habe ich manchmal geweint. Es war Winter und sehr früh dunkel. Ein Bewohner lieh mir ein Fahrrad aus, und von da an fuhr ich jeden Tag überallhin mit dem Fahrrad. Dort, in Raesfeld, sah ich zum ersten Mal im Leben Schnee und rannte sofort nach draußen.

Durch meine Familie in Brasilien kannte ich die Familie Dohle aus Düsseldorf, die mich von Anfang an unterstützte. Gerhard Dohle war damals Leiter des Jobcenters in Essen und zeigte mir vieles. Sogar meinen Mann lernte ich durch ihn kennen. Ja, ich habe mich in Deutschland verliebt. Und deshalb entschied ich mich zwei Jahre später, als ich mein Studium in Brasilien abgeschlossen hatte, für die Liebe. Und für Deutschland.

Denkst du, meine Familie war begeistert? Nein. Meine Eltern haben meine Entscheidung respektiert, aber sie waren nicht glücklich. Mir war klar, dass es schwer sein würde, ein besseres Leben zu finden als jenes, das ich in Brasilien hatte. Aber ich wusste – und meine Eltern sagten immer: „Du hast ein Rückflugticket.” Mit dieser Sicherheit machte ich mich auf den Weg. Mit vielen Abschieden, aber einer Zukunft voller neuer Erfahrungen und Perspektiven vor mir.

„Es gab nichts mehr, das mich aufhalten konnte“

Damals gab es noch keinen Integrationskurs, also habe ich mich für den Grundkurs Deutsch an der VHS in Aachen angemeldet. Mein Architekturdiplom wurde nur teilweise anerkannt. Neben dem Sprachenlernen absolvierte ich Praktika. In den ersten beiden Jahren war die VHS mein zweites Zuhause. Ich wartete auf einen Studienplatz an der RWTH, um weiter Architektur zu studieren, leider erfolglos.

Für eine Weile wusste ich nicht, was ich tun sollte, bis mir bei einer Beratung bei der Bundesagentur für Arbeit die Sozialarbeit vorgeschlagen wurde. Da sah ich einen Weg vor mir, der mich begeisterte. Es gab nichts mehr, das mich aufhalten konnte: Sofort meldete ich mich bei der katho an.

Klingt, als sei alles reibungslos verlaufen? Nein, es war nicht einfach, und wenn mein Mann Hartmut nicht dabei gewesen wäre, hätte ich es vielleicht nicht geschafft. Hinzu kam, dass genau in dieser Zeit mein Vater starb. Ich konnte nicht rechtzeitig zur Beerdigung zurückkehren. Es war sehr traurig, und mir wurde klar, dass die Distanz zu groß war und dass ich nicht länger am Buch meiner Familie mitschreiben würde. Damals war ich zwar gut über Skype und Facebook verbunden, aber es war nicht dasselbe.

Geschlossene Türen und unfreundliche Gesichter

Die Besuche beim Ausländeramt waren immer mit vielen Ängsten verbunden. Allein hätte ich nie den Mut gehabt, dorthin zu gehen. Ich erinnere mich daran, dass ich nie wusste, ob ich die Tür öffnen durfte oder nicht. In Brasilien lässt man die Tür offen, um zu zeigen, dass man eintreten kann, aber hier nicht, und wenn ich die Tür öffnete, waren die Gesichter mir gegenüber meist unfreundlich.

Das waren meine ersten Erfahrungen mit Diskriminierung. Erst später verstand ich, was passiert war. Du musst wissen: In Brasilien galt ich als weiß und gehörte zur oberen Klasse, ich war privilegiert. Hier in Deutschland war ich Ausländerin und BIPOC. Ich wurde mit einer ganz neuen Realität konfrontiert, anfangs verstand ich das nicht. Erst vor zehn Jahren habe ich bei einer Fortbildung zu Rassismus verstanden, dass ich als BIPOC wahrgenommen werde. Die Moderatorin ordnete mich entsprechend ein – und ich fühlte mich extrem diskriminiert. Aber dann machte es klick, und plötzlich konnte ich benennen, was mir jahrelang widerfahren war. Ich konnte verstehen, warum ich acht Jahre lang eine Therapie gemacht hatte. Ich war ein Opfer von Diskriminierung gewesen, ohne es zu wissen.

Mir wurde auch bewusst, wie oft ich in Brasilien selbst Täterin gewesen war. Hier war ich privilegiert, während ich in Deutschland zu einer benachteiligten Minderheit gehörte. Der Umgang damit war nicht einfach, aber er hat mich zu der Person gemacht, die ich heute bin, und hat mich gestärkt. Ja, ich bin sehr zufrieden und dankbar für alles, was mir widerfahren ist. All das hat mich dorthin gebracht, wo ich heute bin, und das ist wunderbar.

„Ich bin da, wo ich sein soll, und ich bin glücklich.“

Die Migration war das einschneidendste Ereignis in meinem Leben und hat zu einer großen Bereicherung und Selbstreflexion geführt. Dadurch konnte ich meine brasilianische Kultur viel besser verstehen. Es war großartig, ein ganz neues Land mit so vielen Unterschieden wie Deutschland kennenzulernen. Anfangs dachte ich, dass ich mich anpassen müsste, um akzeptiert zu werden. Ich wollte wie in Brasilien zu den Privilegierten gehören. Später verstand ich, dass das nie passieren würde, und heute ist es mir völlig egal. Ich bin da, wo ich sein soll, und ich bin glücklich.

Es ist mir egal, wie die Leute mich lesen oder sehen … ich bin Raquel Barros Fialho und gehöre dazu. Ich gehöre zu Aachen und Aachen gehört zu meinem Leben.

Wenn wir wollen, dass die Menschen, die zu uns kommen, sich willkommen fühlen, dann beginnt diese Willkommenskultur im Ausländeramt. Das Ausländeramt ist der erste Anlaufpunkt in Deutschland, wenn wir hier ankommen. Es ist die erste Tür, die wir in der Stadt durchschreiten. Und ich frage mich: Warum muss dieser Ort uns Angst machen?

Dabei geht es um Menschenrechte und Gleichbehandlung. Ausländer*innen sind Menschen mit Fleisch und Blut, voller Gefühle. Ich kam freiwillig und war finanziell völlig unabhängig vom System. Ich konnte meinen Sprachkurs bezahlen, für meine Kosten aufkommen und hatte ein Rückflugticket und ein Zuhause in Brasilien. So war es für mich vergleichsweise einfach, dem Ausländeramt gegenüberzustehen – und dennoch hatte ich Angst, hielt mich zurück und machte mir Sorgen. Ich wollte einfach nur meinen Aufenthaltstitel bekommen und schnell wieder gehen.

„Die Menschen wollen einfach Frieden“

In der heutigen Zeit kommen viele Menschen hierher, weil sie fliehen mussten. Ich weiß nicht, was das bedeutet. Ich habe keine Ahnung, was es bedeutet, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, welche Reise das ist. Ich kann dir nur sagen, dass ich in meiner Arbeit im Bereich Migration und Integration täglich Menschen begegne, die psychisch am Ende sind und einfach nur Ruhe wollen. Sie weinen oft, sind verzweifelt und können nicht zurückkehren. Viele nehmen diese Reise für ihre Familie und besonders für ihre Kinder auf sich. Die Menschen wollen einfach Frieden.

Ich werde nie vergessen, wie eine ältere Frau im Integrationskurs plötzlich anfing zu weinen. Sie hatte die Nachricht per WhatsApp erhalten: Ihr Sohn war gestorben, im Krieg in Afghanistan. Kannst du verstehen oder fühlen, wie das ist? Sie hatte gerade ihren Sohn verloren – doch für das BAMF spielte es keine Rolle. Die Frau musste den Integrationskurs fortsetzen, um die Stunden für den Kurs nicht zu verlieren. Sie konnte die Kosten für einen Kurs nicht tragen, und sie war verpflichtet, ihn zu machen und zu zeigen, dass sie alles für die Integration tut.

Deswegen sage ich, dass unsere Willkommenskultur im Ausländeramt und auch in den Sprachschulen beginnen sollte. Das sind zwei entscheidende Anlaufstellen für den Start in Deutschland. Wie können wir das erreichen? Ist es möglich, den Service im Ausländeramt so zu gestalten, dass sich Menschen willkommen fühlen?

Mitmachen: die yonu Crowd-Recherche

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst analysieren, wie es im Moment abläuft. Es wäre großartig, wenn Bürger*innen mit Migrationsgeschichte uns dabei unterstützen könnten, indem sie an unserer Crowd-Recherche teilnehmen.

Diese Recherche ist mein erster Bericht für yonu. Mein Ziel ist nicht nur Kritik, sondern vor allem die Suche nach Lösungen und Verbesserungen. Ich möchte mich konstruktiv mit der Struktur des Ausländeramtes auseinandersetzen. Wenn du genauso gespannt darauf bist wie ich, lass uns gemeinsam diesen Weg gehen.

Fotos: privat